Staatsanwaltschaft fordert in Berliner Stasi-Mordprozess zwölf Jahre Haft

Im Prozess gegen einen früheren Stasi-Mitarbeiter wegen eines mutmaßlichen Mordes am Grenzübergang Friedrichstraße 1974 hat die Staatsanwaltschaft zwölf Jahre Haft für den Beschuldigten gefordert.

Sie sprach sich am Montag vor dem Berliner Landgericht in ihrem Plädoyer für eine Verurteilung wegen heimtückischen Mordes aus. Die Verteidigung des mittlerweile 80-jährigen Beschuldigten forderte für ihren Mandanten Freispruch.

Der Angeklagte, der getarnt als Passkontrolleur als Operativer Mitarbeiter der Staatssicherheit (Stasi) am Grenzübergang Friedrichstraße arbeitete, soll den 38-jährigen polnischen Staatsbürger im Transitbereich des Bahnhofs erschossen haben. Das Opfer war zuvor mit einer Bombenattrappe in die polnische Botschaft im damaligen Ost-Berlin eingedrungen, um seine Ausreise in den Westen zu erzwingen.

Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MSF) sollen entschieden haben, den Mann zum Schein ausreisen zu lassen. Sie sorgten dafür, dass ihm ein Ausreisedokument ausgestellt und er mit einem Auto zum Bahnhof Friedrichstraße gebracht wurde. Dort sollte er die Passkontrollen zunächst passieren dürfen und dann kurz vor dem Grenzübertritt „unschädlich“ gemacht werden.

Laut Staatsanwältin Henrike Hillmann wartete der damals 31-jährige Angeklagte im sogenannten Tränenpalast hinter einer Sichtblende und schoss dem Opfer aus einem Abstand von knapp zwei bis drei Metern gezielt in den Rücken. Drei Schülerinnen aus Westdeutschland, die damals auf ihre Ausreise warteten, beobachteten der Tat. Sie waren während des Prozesses als Zeuginnen geladen.

Der Beschuldigte habe eindeutig in Tötungsabsicht gehandelt und die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers ausgenutzt, das von dem Angriff völlig überrascht worden sei, sagte Hillmann. Als Stasi-Mitarbeiter habe er zwar nicht eigenmächtig gehandelt, sondern einen Auftrag ausgeführt, räumte sie ein.

Er habe aber durchaus Handlungsspielraum gehabt und hätte den 38-Jährigen etwa auch in Arme oder Beine schießen können, um ihn an der Ausreise zu hindern. Durch die „Liquidierung“ des Polen, für die der damals 31-Jährige später mit einem Orden ausgezeichnet wurde, habe er eigensüchtig seine Karriere befördern wollen.

Auch die Nebenklage, die zwei Söhne, eine Tochter und eine Schwester des Getöteten vertritt, forderte eine Verurteilung wegen heimtückischen Mordes, beantragte aber kein konkretes Strafmaß. Die Hinterbliebenen des Opfers hätten lediglich den Anspruch auf Aufklärung des damals Geschehenen gehabt, sagte einer der beiden Anwälte, Rajmund Niwinski. Dieser sei durch das Verfahren erfüllt, um eine konkrete Strafe oder Rache sei es nie gegangen.

Die von der Staatsanwaltschaft geforderten zwölf Jahre halte er für zu hoch, sagte Niwinski. Er sehe nicht, dass der Angeklagte eigennützige Ziele verfolgt habe. Stattdessen habe er einen Befehl ausgeführt. Zudem müsse der Angeklagte die Möglichkeit haben, seinen Lebensabend in Freiheit zu verbringen, was angesichts des hohen Alters bei einer zwölfjährigen Haftstrafe „eng“ werde.

Die Verteidigung des Angeklagten, der sich während des gesamten Prozesses nicht zu den Vorwürfen äußerte, stellte in ihrem Plädoyer hingegen in Frage, ob der Beschuldigte überhaupt der Schütze war. Dies sei nicht ausreichend belegt, entsprechenden MSF-Unterlagen könne nicht vertraut werden, sagte Anwältin Andrea Liebscher.

Auch ob es sich um Heimtücke handelte, zog sie in Zweifel – und damit ein zentrales Argument der Anklage für den Vorwurf des Mordes. Sie glaube nicht, dass das Opfer arg- und wehrlos gewesen sei und sich zum Zeitpunkt des Schusses in Sicherheit gewähnt habe, sagte Liebscher. Tatsächlich habe er mit weiteren Kontrollen oder ähnlichem rechnen müssen.

Einig waren sich Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung in ihren Plädoyers hingegen bezüglich der historischen Bedeutung des Prozesses. Das Verfahren sei ein Beitrag zur Aufarbeitung der Verbrechen in der DDR, sagte Staatsanwältin Hillmann. Es zeige, wie bedeutsam es sei, dass Mord auch ein halbes Jahrhundert nach der Tat nicht verjähre. Verteidigerin Liebscher sprach von der politischen und historischen Dimension. Es sei ein Luxus, dass über den Sachverhalt heute in einem Rechtsstaat befunden werde.

In dem 50 Jahre alten Fall wurden bereits mehrfach Ermittlungen aufgenommen, die aber immer wieder fallengelassen wurden – zuletzt von der Berliner Staatsanwaltschaft 2017. Zu einem Prozess kam es nun zum ersten Mal. Das Verfahren, das bereits im März begann, wurde immer wieder verlängert. Mit einem Urteil wird am 14. Oktober gerechnet.
© AFP

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