Krefeld – Im Jahr 1976 war sie Mitbegründerin des Arbeitskreises Dritte Welt, der seinen Laden später in „Eine Welt Laden Krefeld“ umbenannt hat. Oberbürgermeister Frank Meyer hat Gerlinde Wientgen nun für ihr Engagement im historischen Ratssaal des Rathauses mit dem Stadtsiegel der Stadt Krefeld ausgezeichnet.
Stundenweise Deutsch
Gerlinde Wientgen ist Ende Mai 1935 in Stuttgart geboren, während des Krieges war ihre Familie auf die Schwäbische Alb evakuiert. Später besuchte sie in ihrer Heimat das Hölderlin-Gymnasium, machte Abitur, studierte in Tübingen, Göttingen, Hamburg und Freiburg Germanistik und Anglistik auf Lehramt. Der Lehrerberuf ihres Ehemanns Wolfgang führte sie nach Krefeld. Eine Nebentätigkeit, die Gerlinde Wientgen später als dreifache Mutter annahm, löste schließlich eine entscheidende Wende in ihrem Leben aus. Sie unterrichtete stundenweise Deutsch für Studierende der Textilingenieursschule, und die Lebensgeschichten ihrer Schüler aus Lateinamerika, Indonesien, Vietnam, dem Iran und aus verschiedenen afrikanischen Ländern faszinierten sie. Darunter waren ehemalige Soldaten des Vietcong oder Gegner des Schah im Iran, die von Folterungen berichteten. Gerlinde Wientgen wurde für sie zur Vertrauensperson und gab Hilfestellungen bei Problemen, wie Behördengängen, Suche nach einer Wohnung, Vermittlung in einen Job. Ihre Gespräche führten sie nicht nur zu der Frage, wie man konkret dem Einzelnen helfen kann, sondern zur Beschäftigung mit den globalen Strukturen, die für Armut, Hunger, Vertreibung und Flucht verantwortlich sind.
Unterstützung in Entwicklungsländern
Ab 1976 engagierte sich Gerlinde Wientgen im Arbeitskreis Dritte Welt, wurde dort schnell zur Vorsitzenden gewählt und blieb mehr als 40 Jahre in diesem Amt. Man begann die Vereinsarbeit am Südwall mit Informations- und Diskussionsveranstaltungen und bot dort auch erste fair gehandelte Produkte an. Nach einer Tansania-Reise wurde das Konzept „Ujamaa“ (übersetzt: Dorfgemeinschaft, Gemeinschaftssinn) des damaligen Präsidenten Julius Nyerere für Gerlinde Wientgen und ihre Mitstreiter zum Ideal. Das Konzept unterstützt die Menschen in Entwicklungsländern dabei, selbst Verantwortung für ihre Situation zu übernehmen, indem sie zum Beispiel ihre Felder für den eigenen Lebensunterhalt nutzen, anstatt sie als Teil großer Plantagen zu vermarkten. Erst am Südwall, später an der Neuen Linner Straße verkauften Gerlinde Wientgen und der Arbeitskreis Dritte Welt Jute statt Plastik, Kaffee aus Nicaragua, Handwerk aus Afrika – der Laden wurde zum Treffpunkt für Friedensbewegte, Umweltschützer, engagierte Menschen aller Art. Hinzu kam eine intensive Aufklärungsarbeit zum Thema.
Beeindruckendes Lebenswerk
Nach dem Ruhestand als Deutschlehrerin für Studenten der Fachhochschule widmete sich Gerlinde Wientgen ab 2005 noch ausgiebiger ihrem eigentlichen lebenslangen Hauptberuf, wechselweise am Westwall und bei verschiedenen Projekten in Indien. Erst 2018, im Alter von 83 Jahren, gab sie die Verantwortung an ihre Nachfolgerin Christa Redeker ab. „Dieses Stadtsiegel, das stets Aktivitäten für das Gemeinwesen in Krefeld würdigt, trägt in Ihrem Fall viele unterschiedliche Sprachen und Kulturen in sich eingeschrieben – es steht für die weltoffene Stadt, die wir verkörpern möchten“, sagte Oberbürgermeister Frank Meyer. Seine Laudatio auf die neue Stadtsiegelträgerin schloss er mit einem Zitat von ihr: „Es klingt heute fast banal, aber die Reichen sind reicher geworden und die Armen ärmer. Wir sind ein Fliegengewicht gegen diese Zeitströmungen. Trotzdem wollen und müssen wir weitermachen“. „Das klingt wie ein Appell, der an uns alle gerichtet ist und den wir gerade heute sehr ernst nehmen sollten“, so Frank Meyer. Er dankte Christa Wientgen für ihr beeindruckendes Lebenswerk und wünscht ihr und ihrer ganzen Familie Glück, Gemeinschaft, Gesundheit und alles Gute.