Eine Abhöraffäre bei der Luftwaffe erschüttert die Bundespolitik: Ein russischer Staatssender veröffentlichte den Mitschnitt eines Gesprächs zwischen vier Bundeswehroffizieren über einen möglichen Einsatz von Taurus-Marschflugkörpern durch ukrainische Streitkräfte. Kanzler Olaf Scholz (SPD) sprach von einer „sehr ernsten Angelegenheit“. Die Union stellte die Glaubwürdigkeit von Scholz infrage: Er habe seine Ablehnung von Taurus-Lieferungen „möglicherweise mit einer Falschdarstellung begründet“, sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt.
In dem Gespräch der Offiziere geht es um den seit Monaten von der Ukraine gewünschten Einsatz von deutschen Taurus-Marschflugkörpern, die eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern haben. Unter anderem wird darüber gesprochen, ob auch die Kertsch-Brücke getroffen werden könnte, welche die Halbinsel Krim mit dem russischen Festland verbindet, und ob ukrainische Streitkräfte das Waffensystem ohne Beteiligung der Bundeswehr vor Ort bedienen könnten.
Scholz schließt die Lieferung des Taurus-Waffensystems trotz Kritik auch aus den Reihen der Koalitionspartner aus. Er begründet seine Weigerung damit, dass Deutschland dadurch in den Ukraine-Krieg hineingezogen werden könnte, bis hin zu einer direkten Beteiligung des deutschen Militärs.,Viele Fachleute bestreiten, dass es einen solchen Automatismus gebe. Vielmehr könnten die ukrainischen Streitkräfte die Marschflugkörper sehr gut selbst bedienen und programmieren.
Dobrindt sagte dem Magazin „Spiegel“, die Berichte über die Abhör-Affäre seien „in doppelter Hinsicht befremdlich“. Zum einen, „dass sicherheitsrelevante Gespräche offensichtlich von den Russen mitgehört werden. Zum anderen, dass der Bundeskanzler seine Ablehnung von Taurus-Lieferungen möglicherweise mit einer Falschdarstellung begründet“.
„Der Bundeskanzler muss sich dafür vor dem Bundestag erklären“, forderte Dobrindt. Bei dieser Sachlage könne ein Untersuchungsausschuss „nicht ausgeschlossen werden“. Unions-Parlamentsgeschäftsführer Thorsten Frei (CDU) sagte der „Welt“, die Union habe eine Sondersitzung des Verteidigungsausschusses beantragt und fordere das persönliche Erscheinen von Scholz. ,Der Kanzler kündigte an, die Angelegenheit werde „jetzt sehr sorgfältig, sehr intensiv und sehr zügig aufgeklärt“. Der Militärische Abschirmdienst (MAD) leitete eine Untersuchung ein.
Das Verteidigungsministerium erklärte: „Es ist nach unserer Einschätzung ein Gespräch im Bereich der Luftwaffe abgehört worden. Ob in der aufgezeichneten oder verschriftlichten Variante, die in den sozialen Medien kursieren, Veränderungen vorgenommen wurden, können wir derzeit nicht gesichert sagen“, sagte eine Sprecherin.,
Der rund 38 Minuten lange Mitschnitt kursiert seit Freitag. Verbreitet wurde die Aufnahme von der Chefredakteurin des früher als Russia Today bekannten russischen Staatssenders RT, Margarita Simonjan, im Onlinedienst Telegram. Nach Simonjans Angaben fand die virtuelle Telefonkonferenz am 19. Februar statt.
Die Besprechung der Bundeswehroffiziere fand nach Medienangaben über die Plattform Webex statt. Der Vize-Chef des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Roderich Kiesewetter (CDU), sagte in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“, ein russischer Teilnehmer könne Zugang zu der Webex-Konferenz gehabt haben. Darauf gebe es Hinweise aus Quellen, „die sich berufsmäßig damit beschäftigen“. Es sei nun zu klären, wie die russischen Spione die Einwahlnummern bekommen hätten.
Eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums sagte am Sonntag, es gebe „Anhaltspunkte, dass mit Blick auf die offensichtlich besprochenen Inhalte ein nicht ausreichend sicheres Kommunikationsmittel verwendet wurde“. Dies sei Gegenstand der weiteren Untersuchungen. Laut „Bild am Sonntag“ wurde die Sitzung über eine Büro-Festnetzleitung der Bundeswehr auf die Mobiltelefone der Soldaten abgesetzt.
Die Regierung in Moskau forderte am Samstag „Erklärungen von Deutschland“. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte im türkischen Antalya, das nun veröffentlichte Gespräch zeige, „dass das Kriegslager in Europa immer noch sehr, sehr stark ist“. Die „Kriegspartei“ – also die westlichen Unterstützer der Ukraine – wolle ihren Kurs nicht ändern und Russland eine „strategische Niederlage auf dem Schlachtfeld zufügen“.
Der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew schrieb am Sonntag im Onlinedienst Telegram, Versuche, das Gespräch der Bundeswehroffiziere als ein bloßes Gedankenspiel über Raketen und Panzern darzustellen, seien „böswillige Lügen“. Der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrats fügte hinzu: „Deutschland bereitet sich auf einen Krieg mit Russland vor.“
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