Auf 18 Seiten skizziert der FDP-Chef eine „Wirtschaftswende“ mittels Steuersenkungen für Unternehmen, der Lockerung von Klimavorgaben und der Reduzierung von Subventionen und Sozialleistungen. SPD und Grüne wiesen die Vorschläge zurück, Sozialverbände kritisierten sie scharf. Aus der Wirtschaft kam Lob für Lindners Ideen, aber auch die Warnung vor weiterer politischer Unsicherheit. Die Union forderte Neuwahlen, begrüßte das Papier aber inhaltlich.
Linder spricht sich in seinem Papier für eine „teilweise grundlegende Revision politischer Leitentscheidungen“ aus. In der Energiepolitik erklärt er etwa den festgelegten Ausstieg aus der Kohle für überflüssig und fordert den Einsatz von Fracking zur Gasförderung. Durch weniger Sozialleistungen, ein höheres Renteneintrittsalter, flexiblere Arbeitszeiten und die Abschaffung der telefonischen Krankschreibung sollen Arbeitskräfte mobilisiert werden.
Auf europäischer Ebene sollte Deutschland laut Lindner die Abschaffung von Vorgaben etwa für die Gebäudeenergieeffizienz und die Autoindustrie „durchsetzen“. Auch brauche es keine „klimapolitisch motivierten Dauersubventionen“, der Klima- und Transformationsfonds könne daher aufgelöst werden. Auch das von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) eingeführte Belohnungsprogramm für innovativen Klimaschutz, die sogenannten Klimaschutzverträge, könne entfallen.
Der SPD-Abgeordnete Nils Schmid bezeichnete Lindners Papier als „neoliberale Phrasendrescherei“ und als in weiten Teilen unvereinbar mit dem Koalitionsvertrag. Parteichef Lars Klingbeil zeigte sich diplomatischer: „Vorschläge sind immer Willkommen“, sagte er der „Augsburger Allgemeinen“. Viele der Ideen vor allem in der Sozial- und Arbeitspolitik widersprächen aber sozialdemokratischen Positionen.
Von den Grünen kam vor allem Unverständnis. Der Fraktionsvize Andreas Audretsch sprach von einer „Nebelkerze“. „Wichtiger wäre es, dass sich der Finanzminister um den Haushalt kümmert“, sagte er dem Nachrichtenportal t-online. „Die FDP verabschiedet ja jeden Monat ein Positionspapier“, sagte Fraktionschefin Katharina Dröge dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Koalition könne sich damit nicht immer beschäftigen.
Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, warf Lindner vor, mit seinem Sparkurs den sozialen Zusammenhalt in Deutschland zu gefährden. „Menschen werden gegeneinander ausgespielt.“ Michael Groß, Präsident der Arbeiterwohlfahrt, kritisierte, Lindner übe sich in „reiner Klientelpolitik“.
Von Unternehmerseite kam Lob für Lindners Ideen. Der Verband der Familienunternehmer sprach von einer „exzellenten Analyse“, die nun schnell umgesetzt werden müsse. Der Präsident des Außenhandelsverbands BGA, Dirk Jandura, begrüßte „endlich eine Rückkehr zur Sozialen Marktwirtschaft“ mit Steuererleichterungen für alle Unternehmen statt Subventionen für einzelne. Es brauche aber mehr als Vorschläge und Einigkeit in der Regierung. „Noch mehr Verunsicherung kann sich unser Land nicht leisten.“
Unterschiedliche Signale kamen aus der FDP. Fraktionschef Christian Dürr sprach von einem „ehrlichen Angebot“, das Linder gemacht habe und das nun innerhalb der Koalition besprochen werden solle. Parteiinterne Kritiker der „Ampel“ fühlten sich hingegen in ihrer Forderung nach einem Ende der Koalition bestätigt. „Das Papier ist ein Frontalangriff auf den Koalitionsvertrag“, sagte Uwe Henn, Mitinitiator der FDP-Basisinitiative Weckruf-Freiheit, dem „Tagesspiegel“.
„Wenn die FDP jetzt die Ampel verlässt, wäre das politischer Selbstmord aus Angst vor dem Tod“, sagte hingegen der frühere FDP-Bundesinnenminister Gerhart Baum dem „Tagesspiegel“. Einem Bericht der Zeitung zufolge hatte Lindner die eigene Partei nicht über das Papier informiert. Die „Welt am Sonntag“ hatte zuvor berichtet, dass zunächst nur Beratungen im engsten Kreis der Bundesregierung geplant waren, das Papier war demnach ungewollt öffentlich geworden.
CDU-Chef Friedrich Merz erklärte, Lindners Vorschläge „gehen in die richtige Richtung“. Insbesondere die SPD habe aber offenbar noch nicht begriffen, dass es wirtschaftspolitisch ein Umsteuern brauche. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) forderte Neuwahlen. „Es ist vorbei: Das Totenglöckchen der Ampel läutet. Eine Regierung, die gegeneinander Papiere verschickt, ist handlungsunfähig und eine Blamage für unser Land“, sagte er der „Bild“.
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