Der heute 80-Jährige wurde am Montag vom Landgericht Berlin wegen der Tötung eines polnischen Staatsbürgers vor rund 50 Jahren zu zehn Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Angeklagte den Mann 1974 im Transitbereich des Bahnhofs Berlin-Friedrichstraße von hinten erschossen hatte, um ihn an der Ausreise zu hindern.
Das 38 Jahre alte Opfer war am Tag der Tat vor rund 50 Jahren mit einer Bombenattrappe in die polnische Botschaft in Ost-Berlin eingedrungen, um seine Ausreise in den Westen zu erzwingen. Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MFS) entschieden daraufhin, den Mann zum Schein ausreisen zu lassen. Sie sorgten dafür, dass ihm Ausreisedokumente ausgestellt und er mit einem Auto zum Bahnhof Friedrichstraße gebracht wurde.
Dort sollte er die Passkontrollen zunächst passieren dürfen und dann kurz vor dem Grenzübertritt „unschädlich“ gemacht werden. In einem Gang zwischen der Abfertigungshalle, dem sogenannten Tränenpalast, und dem eigentlichen Bahnhof wurde er dann aus kurzer Distanz von hinten erschossen. Der Pole wurde schwer verletzt in das Stasi-Untersuchungsgefängnis in Hohenschönhausen gebracht, wo er auf dem Operationstisch starb.
Der damals 31-jährige Angeklagte, der zu einer sogenannten Operativgruppe der Stasi gehörte, sei der Tat eindeutig überführt, sagte der Vorsitzende Richter Bernd Miczajka in der Urteilsbegründung. Er habe die Tat zwar nicht aus persönlichen Motiven begangen, sie sei von der Stasi geplant gewesen. Er habe die Tötung aber „gnadenlos ausgeführt“.
Die Staatsanwaltschaft hatte zwölf Jahre Haft für den Angeklagten gefordert, der sich während des gesamten Prozesses nicht zu den Vorwürfen geäußert hatte. Seine Verteidigerin Andrea Liebscher bestritt hingegen, dass ihr Mandant der Schütze war. Auch ob es sich um Heimtücke handelte, zog sie in Zweifel – und damit ein zentrales Argument der Anklage für den Vorwurf des Mordes. Sie glaube nicht, dass das Opfer arg- und wehrlos gewesen sei und sich zum Zeitpunkt des Schusses in Sicherheit gewähnt habe, sagte Liebscher in ihrem Plädoyer. Tatsächlich habe er mit weiteren Kontrollen oder ähnlichem rechnen müssen.
Das sah das Gericht anders. Der Getötete habe, nachdem er alle Kontrollen erfolgreich passiert habe, keinen Angriff mehr erwartet, so Richter Miczajka. Er sei arglos gewesen und habe sich daher nicht wehren können. „Es gibt keinen Anhaltspunkt, dass er von einer Eskalation ausging“, sagte Miczajka. Auch die Zeuginnen, drei Schülerinnen aus West-Deutschland, die ebenfalls an der Passkontrolle warteten und die Tat beobachteten, hätten vor Gericht ausgesagt, dass der Geschädigte keine Anzeichen von Nervosität oder Argwohn gezeigt habe.
Der Angeklagte habe den Auftrag gehabt, die Ausreise des Manns zu verhindern, dabei aber durchaus Handlungsspielraum gehabt, sagte Miczaja. Er hätte den Polen zum Beispiel nur verletzen und so fluchtunfähig machen können. Stattdessen habe er ihm in den unteren Brustkorb geschossen. Es sei für den Angeklagten erkennbar gewesen, dass dies erhebliche Organverletzungen nach sich ziehen würde. Dass der Fliehende die angebliche Bombe zünden könnte, sei zum Zeitpunkt der Tat nicht mehr zu befürchten gewesen.
Neben den Aussagen der Zeuginnen geht die Täterschaft aus Sicht des Gerichts unter anderem aus einem Vorschlag für eine Auszeichnung des Angeklagten hervor, die er für die Tat im gleichen Jahr erhielt. In der Begründung, warum dem damaligen Oberleutnant für seinen Einsatz der Kampforden in Bronze „Für Verdienste um Volk und Vaterland“ verliehen werden sollte, wurde die Tötung beschrieben. Dass es sich um Notwehr gehandelt habe und der Pole bewaffnet gewesen sei, sei lediglich eine „Legende“ der Stasi gewesen, um den „Anschein der Rechtsstaatlichkeit der DDR nicht zu beschädigen“, sagte Miczajka.
Das Strafmaß von zehn Jahren sei nach DDR-Recht bemessen worden, weil es das mildere sei, erläuterte der Richter. Nach bundesdeutschem Recht wäre für Mord lebenslange Haft vorgesehen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der Angeklagte kann binnen einer Woche Revision einlegen.
Nach Angaben des mittlerweile für die Stasi-Unterlagen zuständigen Bundesarchivs ist dies die erste Verurteilung eines Stasi-Angehörigen wegen Mordes. Bei den sogenannten Mauerschützenprozessen, die hauptsächlich in den 90er Jahren stattfanden, gab es zwar Schuldsprüche wegen Mordes. Bei den Angeklagten handelte es sich aber um Angehörige der Grenztruppen der DDR, nicht der Staatssicherheit.
Die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) begrüßte das Urteil. Es sei aber empörend, dass die Staatsanwaltschaft erst auf Drängen polnischer Behörden tätig geworden sei, erklärte der UOKG-Vorsitzende Dieter Dombrowski. Tatsächlich war die Anklageerhebung der Berliner Behörden in dem Fall durch ein Auslieferungsantrag Polens ins Rollen gekommen. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft in der Bundeshauptstadt die Ermittlungen eingestellt, weil sie von Totschlag ausging. Dieser verjährt nach 20 Jahren, Mord hingegen nicht.
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