Deutschland hinkt seinen eigenen Zielen bei der Elektrifizierung des Schienennetzes einer Auswertung zufolge deutlich hinterher. Bislang seien 62 Prozent des Netzes elektrifiziert, teilten die Allianz pro Schiene und der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen am Mittwoch in Berlin mit. Das Ziel im Koalitionsvertrag liege bei 75 Prozent bis 2030. Bei „gleichbleibendem Tempo“ der Elektrifizierung ist das demnach nicht zu erreichen.
Um die 75 Prozent zu schaffen, müssten in Deutschland bis 2030 rund 4500 Kilometer Infrastruktur mit Oberleitungen hinzukommen, teilten die Verbände mit. Es seien aber nur 1100 Kilometer in der Planung. Der Geschäftsführer der Allianz pro Schiene, Dirk Flege, nannte das „erschütternd wenig“. „Damit kommen wir auf 65 Prozent statt der versprochenen 75 Prozent.“
Die Elektrifizierung unterscheide sich zudem je nach Region deutlich. Es gebe einige Bereiche, die überhaupt nicht elektrifiziert seien. Besonders in Mitteldeutschland sei das ein Problem. „100 Kilometer rund um den Harz“ gebe es keine Oberleitungen, und auch in Oberfranken und der Oberpfalz laufe der Verkehr größtenteils ohne Strom, sagte Martin Henke, Geschäftsführer Eisenbahnverkehr beim VDV. Dort fahren die Lokomotiven mit Diesel.
Unterschiede zeigten sich auch bei den Ausbauzielen: So sollen in Niedersachsen und Sachsen bis 2030 überhaupt keine Strecken elektrifiziert werden. „Das ist schon ein Armutszeugnis“, kritisierte Flege. Dass es so langsam vorangeht, hänge insbesondere an zu langwierigen und bürokratischen Verfahren. VDV und Allianz pro Schiene schlagen daher vor, nicht mehr bei jedem einzelnen Vorhaben zur Elektrifizierung eine neue Kosten-Nutzen-Bewertung durchzuführen.
Ein volkswirtschaftlicher Nutzen sei bei der Elektrifizierung in jedem Fall sinnvoll. Ohne aufwendige Verfahren zur Feststellung, könnten zwei bis drei Jahre eingespart werden, sagte Flege. Gleichzeitig setzten die beiden Verbände sich für ein eigenes Förderprogramm für den Güterverkehr ein und forderten einen Fonds für die Schieneninfrastruktur – auch um der Wirtschaft Planungssicherheit zu gewähren.
Der Bahnexperte der Grünen-Bundestagsfraktion, Matthias Gastel, sieht das ähnlich. „Die Elektrifizierung Nürnberg – Marktredwitz – Cheb kommt seit über drei Jahren wegen des fehlenden Wirtschaftlichkeitsnachweises nicht voran“, kritisierte er. Die Einzelbewertung der Projekte müsse wegfallen. Zudem müssten sich Bund und Länder grundsätzlich einigen, wer welchen Anteil bezahlt. Bisher wird das für jedes Projekt einzeln geklärt.
Die Elektrifizierung sei für die Bahn „kein Selbstzweck“, sagte Henke. Sie biete den Bahnen günstigere Antriebsmöglichkeiten und die Chance, schneller als alle anderen Verkehrsträger klimaneutral zu werden. ,Deshalb sollten die Ausbauziele der Regierung nach Ansicht der Verbände noch erhöht werden. VDV und Allianz pro Schiene forderten 80 Prozent Elektrifizierung bis 2035 und damit 500 Kilometer pro Jahr, acht Mal mehr als die bisherigen 80 Kilometer jährlich.
Verglichen mit den anderen Staaten der Europäischen Union liegt Deutschland etwas über dem Schnitt von 57 Prozent elektrifizierter Strecken im staatlichen Eisenbahnnetz. Die Schweizer Bahnen fahren auf 100 Prozent der Strecken mit Strom, Polen ist etwas besser als Deutschland, Frankreich etwas schwächer.
Weil aber viele der stark befahrenen Hauptstrecken in Deutschland mit einem hohen Verkehrsaufkommen schon heute elektrifiziert sind, ist die Verkehrsleistung auf der Schiene bereits heute bei 90 Prozent. Das heißt, die Strecken, auf denen die meisten Züge fahren, sind heute schon mit Oberleitungen ausgestattet. Im Fernverkehr läuft 99 Prozent der Verkehrsleistung über Strom, im Nahverkehr sind es 81 Prozent.
© AFP