Krefeld – Der 27. Januar ist der von den Vereinten Nationen ausgerufene Internationale Tag zum Gedenken an die Opfer des Holocaust. Rund um dieses Datum gibt es in Krefeld wechselnd an einer Schule einen Gedenkakt, der von der Schülerschaft gemeinsam mit den Pädagogen gestaltet wird. „Es hat etwas mit mir zu tun!“ war die Veranstaltung im Berufskolleg Vera Beckers in diesem Jahr überschrieben. Oberbürgermeister Frank Meyer empfing die Gäste, darunter auch Samuel Naydych, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Krefeld, in der Sporthalle des Berufskollegs. Zahlreiche Gäste folgten der Einladung, darunter Vertreter aus Politik und Verwaltung, von den Kirchen und Religionsgemeinschaften, von Vereinen und aus den Schulen. Während der zweistündigen Veranstaltung zeigte sich, wie tief besorgt auch die Schülerschaft vor einem Wiedererstarken des Rechtsextremismus ist. Viele der Redner verwiesen auf die Fragilität der Demokratie und dass sie besonders in diesen Zeiten geschützt werden müsse.
Baum der Erinnerung als Zeichen für das Weitertragen der Erinnerung
Die Begrüßung nahmen Schulleiter Stefan Bur und Schülersprecherin Alicia Mokom gemeinsam vor. Beide schilderten eindrucksvoll, wie viel Zeit die Schüler in die intensive Vorbereitung der Gedenkveranstaltung über Monate investiert haben und wie dies alle verändert habe. Einen – noch ganz zarten – Baum der Erinnerung zeigten sie auf der Bühne. Die Pflanze soll nun wachsen als Zeichen dafür, dass die Erinnerung weitergetragen wird.
Oberbürgermeister Frank Meyer erinnerte in seiner Rede zunächst an den Schrecken des NS-Terrors und an den historischen Tag der Befreiung des KZ Auschwitz vor 79 Jahren. „Die Befreiung könnte ein freudiger Anlass sein. Man kann aber den 27. Januar nicht als einen Feiertag begreifen. Dafür ist das, was in Auschwitz und in den vielen anderen Konzentrationslagern geschah, zu grauenvoll, zu schmerzhaft, zu traurig.“ Der Oberbürgermeister rief in Erinnerung, welches Schicksal die Juden zu erleiden hatten. „Jüdinnen und Juden auch aus Krefeld, die bis dahin ganz normal am Leben in dieser Stadt teilgenommen hatte, wurden mit Beginn der NS-Diktatur ihrer Rechte beraubt. Sie wurden unterdrückt, verstoßen, misshandelt, entehrt, ausgeplündert, enteignet und vertrieben: Man sprach diesen Menschen das Recht ab, überhaupt leben zu dürfen.“ Die Mahnung „Nie wieder!“ gewinne in diesem Kontext an Aktualität, die Demokratie müsse weiterhin vor Hass und Gewalt beschützt werden, forderte Frank Meyer. „Nie wieder Nazis! In unserem Land sollen alle Bürger frei, in Frieden, ohne Angst leben dürfen. Und darum habt ihr Schüler vom Berufskolleg Vera Beckers auch einen sehr passenden Titel für die heutige Veranstaltung ausgesucht.“
Oberbürgermeister spricht über Nahostkonflikt
Frank Meyer erwähnte in seiner Rede den aktuellen Nahostkonflikt, ausgelöst durch einen Terror-Angriff der Hamas aus dem Gaza-Streifen. „Unsere Solidarität gilt aus historischer Verpflichtung heraus dem Staat Israel und den dort lebenden Menschen. Der Staat Israel ist das Versprechen an die Jüdinnen und Juden, dass sie in einem sicheren Land leben können“, sagte Frank Meyer, der zugleich aber betonte: „Unsere Solidarität muss auch den Zivilisten im Gaza-Streifen gelten. Sie sind ebenfalls unschuldige Opfer dieses Krieges.“ Dem Oberbürgermeister war hier an einer Differenzierung gelegen. „Israel hat nicht das Ziel, Zivilisten zu töten – im Unterschied zur Hamas, deren erbarmungsloser Angriff auf Israel genau dieses Ziel hatte.“
Im dritten Teil seiner Rede ging Frank Meyer auf die aktuelle Lage in Deutschland im Januar 2024 ein. Jüdinnen und Juden würden auch in Deutschland wieder in Angst leben: „Anschläge auf Synagogen, Angriffe auf Menschen, die eine Kippa tragen – sie kommen aus verschiedenen Richtungen. Der Antisemitismus macht sich in unserem Land wieder breit.“ Die beste Versicherung gegen Antisemitismus, Völkerhass, Faschismus und Nationalsozialismus bleibe die Erinnerung an die Geschichte. Der Oberbürgermeister benannte hier klar den Rechtsextremismus als Gefahr. Er erwähnte, dass mit der AfD eine Partei im Bundestag sitze, in der Rechtsextreme Mitglied sind. Frank Meyer nannte den Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke, der eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert hatte und das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnete. Nationalismus sei nicht die Antwort auf die Herausforderungen der Zeit, sagte Frank Meyer. Deshalb sei er dankbar für das Engagement von so vielen Krefelderinnen und Krefeldern für Toleranz und Vielfalt, für Zusammenhalt und Respekt. Dies habe sich zuletzt auch an der Jüdischen Synagoge zum Pogromgedenken am 9. November wieder gezeigt, wo so viele Menschen zusammengekommen seien wie seit vielen Jahren nicht.
Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zeigt sich tief bewegt von Gedenkfeier
Samuel Naydych, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, ging in seiner Rede ebenfalls auf die Lage im Nahen Osten ein und schilderte, was der Staat Israel für die Juden auf der Welt bedeutet – das Versprechen auf einen sicheren Ort, auf eine Heimat für alle, auf ein Miteinander von Menschen verschiedener Religionen und verschiedener Herkunft. Dieser Staat Israel sei aber permanent bedroht. „Israel führt seit seiner Gründung ununterbrochen einen Überlebenskrieg.“ Naydych zeigte sich tief bewegt von der Feier in Krefeld und davon, bei dem Gedenkakt in einer Bildungsstätte reden zu dürfen. Bildung sei der Schlüssel zu allem, analytisches Denken forderte er vor den Schülern ein und endete mit dem Satz: „Jetzt ist die perfekte Zeit, den Respekt eurer zukünftigen Kinder zu verdienen.“
Die dritte Rednerin des Tages, Sandra Franz als Leiterin der NS-Dokumentationsstätte Villa Merländer, ging in ihrer Rede ebenfalls auf die Bezüge zur Gegenwart ein, sie forderte eine klare Distanzierung von Rechtsextremen und verwies auf die Gefahr von „Kipppunkten“ in der Gesellschaft. In der NS-Zeit hätten Zeitzeugen stets ein „Kippen“ beobachtet, nachdem sich die Gesellschaft verändert habe. Nun befinde man sich wohl wieder an einem solchen Kipppunkt, sagte Sandra Franz. Es komme nun darauf an, dass die Gesellschaft zusammen zeigt, dass man ein Kippen nicht zulässt.
Schüler berichten von Berlinfahrt
Zwischen den einzelnen Reden gestalteten die Schüler Programmpunkte. Der Chor des Berufskollegs Vera Beckers interpretierte auf wunderbare Weise die Lieder „Die Moorsoldaten“ und „Dona Dona“. Die Schüler Ashti Ismail und Recep Karayel berichteten von ihren Eindrücken bei der Berlinfahrt und dem Besuch der Holocaust-Gedenkstätte, dem beklemmenden Gefühl, inmitten der Steine zu stehen. Sie berichteten auch, wie sie an ihre eigene Familie gedacht hätten, als sie von den Schicksalen der Juden in der NS-Zeit hörten. Manchem Mitschüler seien da die Tränen gekommen. Drei Jugendliche – Florian Suthen, Julia Kwiatkowska und Jamal Hoeren – trugen Passagen aus Briefen vor, die KZ-Häftlinge an ihre Familien geschrieben haben.
Sehr viel Applaus erhielten die Studierenden der praxisintegrierten Erzieherinnen- und Erzieherausbildung für ihre Aufführung. Sie machten in einem kurzen Theaterstück deutlich, wie durch Repression und Zwang aus einer fröhlichen und bunten Menschengruppe ein gedrilltes Kollektiv wird, das sämtliche Individualität verliert. Im Anschluss an diese Aufführung stellten sich die Jugendlichen auf, nannten ihren echten Namen und gaben etwas Persönliches von sich preis. Eine Schülerin sagte offen, dass sie Depressionen habe, eine andere sagte, dass sie Muslima sei, wieder eine andere, dass sie tätowiert und gepierct sei. „Früher wären wir vergast worden, heute erziehen wir eure Kinder“, riefen die Schülerinnen zum Schluss. Das war tief bewegend und ging unter die Haut. Weitere Beiträge kamen von den angehenden bekleidungstechnischen Assistentinnen und Assistenten, die über „Insignien der Macht und Unterdrückung“ in Mode und Bekleidung informierten sowie von angehenden Erzieherinnen und Erziehern, die von der emotionalen Stolpersteinverlegung für die Familie Lindenbaum in Krefeld auf der Moerser Straße berichteten.
Treffen mit Thomas Gabelin, Überlebender des Lagers Theresienstadt
Ein weiterer Beitrag der Schüler war auch der Bericht über einen Besuch bei Thomas Gabelin, einem Überlebenden des NS-Terrors, der als Sohn einer christlich-jüdischen Familie im Lager Theresienstadt geboren wurde. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, Schülern von der Zeit zu berichten und die Erinnerung wach zu halten. Im Vorfeld des Gedenkaktes hatte der Journalismus-Kursus des Beruflichen Gymnasiums Thomas Gabelin besucht und mit ihm über sein Leben gesprochen. Von diesem Treffen und dem Interview der Schülerschaft mit Thomas Gabelin in der Villa Merländer ist ein Video erstellt worden, das ebenso wie weitere Projekte auf der Website des Berufskollegs unter der Adresse https://www.bkvb.de/nie-vergessen/ eingesehen werden kann.
Stefan Bur dankte als Schulleiter zum Ende der Veranstaltung insbesondere dem Team der Villa Merländer um Sandra Franz für die Begleitung bei der Vorbereitung zur Gedenkveranstaltung und die wertvolle Unterstützung. Er verband seine Abschlussworte mit der Hoffnung, dass die Gedenkfeier nachhaltig in Erinnerung bleibt und bei seinen Schülern den Einsatz für die Demokratie noch stärkt. Verwiesen wurde in diesem Zusammenhang auch auf die Demonstration für die Demokratie am kommenden Samstag, 3. Februar, um 14 Uhr am Willy-Brandt-Platz.