Krefeld – Ziel ist es, eine umfassende wissenschaftliche Neubewertung des aufsehenerregenden und bislang einzigartigen Fundes aus Norddeutschland zu erstellen. Die Leiche wurde um 660 bis 700 nach Christus in einem Moor im heutigen Landkreis Aurich bestattet. Die Umstände des Todes sind nicht mehr zu klären, obwohl die menschlichen Überreste bereits intensiv untersucht wurden. Bereits unmittelbar nach der Entdeckung 1907 begann die bis heute anhaltende Beschäftigung mit dem gesamten Fundkomplex. Nun widmet sich ein Kreis von Textilarchäologen und Naturwissenschaftlern der bemerkenswerten, sehr gut erhaltenen Kleidung des Mannes. Dr. Annette Schieck, Leiterin des Deutschen Textilmuseums Krefeld, ist maßgeblich an der Projektkonzeption und dem Förderantrag beteiligt. Sie ist im wissenschaftlichen Beirat und engagiert sich ab der zweiten Projekthälfte bei der Konzeption und Gestaltung der Präsentation der Forschungsergebnisse. Vorgesehen ist unter anderem eine online-Darstellung der textilen Qualitäten in Verbindung mit den Forschungserkenntnissen. Das Gesamtprojekt läuft bis Ende Oktober 2028 und schließt mit einem interdisziplinären Kolloquium ab. Die Ergebnisse fließen unter anderem in die museale Präsentation und Vermittlung dieses Kulturerbes ein.
Die Leiche des Mannes von Bernuthsfeld wurde um 660 bis 700 nach Christus in einem Moor im heutigen Landkreis Aurich bestattet. Der Verstorbene wurde vollständig bekleidet beigesetzt. Seine Bekleidung gilt als eines der am besten erhaltenen Kleidungsensembles des frühen Mittelalters in Europa. Sie besteht aus einem Manteltuch, Wadenbinden und einem Tunika-artigen Hemd, alle Teile bestehen aus Wolle, was auf die Bodenbeschaffenheit zurückzuführen ist. „Alle Bekleidungsteile sind dunkel und braun verfärbt, dennoch lassen sich die ursprünglich unterschiedlich farbigen und sogar in Karos gemusterten Gewebepartien erkennen“, berichtet Schieck. Von ganz besonderem Interesse ist das Obergewand. Es setzt sich aus mehr als 40 Flicken verschiedener Größe und Qualität zusammen. Ein Expertenteam erforscht nun die Herstellungsmethoden, Farbigkeit und das Entstehungsdatum. Dabei gilt es nicht nur, die textilen Fähigkeiten der Zeit zu dokumentieren, sondern sich der Identität des Mannes anzunähern.
Ein interdisziplinäres Forschungsteam unter Leitung von Professor Dr. Hauke Jöns vom Niedersächsischen Institut für historische Küstenforschung widmet sich nun einem der bedeutendsten archäologischen Funde Norddeutschlands. Sie möchten mit neuesten natur- und geisteswissenschaftlichen Methoden rekonstruieren, wer dieser Mann war, wie er lebte, wo und wann die Gewebe und das Gewand hergestellt wurden und welche Bedeutung seine Kleidung hatte. „Wir haben drei Jahre Zeit diese Forschung zu betreiben. Nach der Sichtung und Kombination aller in den vergangenen 120 Jahren erfolgten Einzeluntersuchungen, werden die Gewebe und Nähfäden analysiert und dokumentiert. Ausgewählte Materialproben werden dann zum Beispiel mit der C-14-Methode datiert, chemisch und fasertechnisch analysiert und in der Gruppe interpretiert“, sagt die Leiterin des Deutschen Textilmuseums Krefeld. Die gesamten Forschungsergebnisse sollen zum Anschluss über eine Tagung, Publikation und anderen Veröffentlichungen einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden.
Die Entdeckung der Moorleichen und anderer archäologischer Funde ist eng mit der wirtschaftlichen Nutzung der Moore in Norddeutschland verknüpft. Seit dem 18. Jahrhundert wird Torf als Rohstoff in größerem Umfang abgebaut. Zwei junge Torfstecher stießen mit dem Spaten in 60 Zentimeter Tiefe zunächst auf Knochen und kurz darauf auf einen roten Haarschopf. Von ursprünglich etwa 60 in den Mooren Niedersachsens gefundenen Moorleichen sind heute nur noch 15 erhalten.
Soweit diese mit naturwissenschaftlichen Methoden datiert werden konnten, konzentrieren sie sich ähnlich wie in anderen Regionen Nordeuropas in die Vorrömische Eisenzeit und die Römische Kaiserzeit, also in einen Zeitraum zwischen 600 vor und 400 nach Christus. Nur die Moorleiche von Bremervörde, das Kind aus der Esterweger Dose und der Mann von Bernuthsfeld, dessen original erhaltene frühmittelalterliche Kleidung absoluten Seltenheitswert hat, stammen aus dem Mittelalter.
Das Projektteam besteht aus Mitarbeitenden des Niedersächsischen Instituts für historische Küstenforschung, des Ostfriesischen Landesmuseums Emden, der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, des Curt-Engelhorn-Zentrums Archäometrie Mannheim und des Deutschen Textilmuseums Krefeld sowie der Ostfriesischen Landschaft in Aurich.




