Eine durch Krisen verunsicherte bürgerliche Mitte in Deutschland ist laut einer Analyse von Experten der Bertelsmann-Stiftung und des Sinus-Instituts für Sozial- und Marktforschung zunehmend unzufrieden mit den Parteien der Ampelkoalition wie auch der Union. Diese erlebten in der sie eigentlich tragenden und gesellschaftlich wichtigen Mitte einen „Vertrauens- und Zustimmungsverlust“, hieß es in dem am Donnerstag veröffentlichten Aufsatz. SPD, CDU, Grüne, FDP und CSU reagierten darauf aber strategisch bisher falsch – und zwar mit „Konfrontation und gegenseitiger Blockade“.
Den beiden Verfassern Robert Vehrkamp und Silke Borgstedt zufolge sollten die Parteien der demokratischen Mitte von diesem erfolglosen Vorgehen abrücken und mit Blick auf die Bundestagswahl 2025 eine Trendwende hin zu mehr Kooperation einleiten, um ihre „bröckelnden Mehrheiten in der Mitte der Gesellschaft“ zurückzuerobern. Speziell verwiesen sie dabei auf die Debatte um die Schuldenbremse. Vor allem „Menschen aus der Mitte der Gesellschaft“ wünschten eine „pragmatische Umsetzung machbarer Lösungen“.
Vehrkamp und Borgstedt stützen ihre Analyse auf verschiedene Befragungen zur politischen Stimmung zwischen September 2021 und Februar 2024, wobei sie das Lager der sogenannten bürgerlichen Mitte in zwei unterschiedliche Milieus unterteilen – eine an vertrauten Regeln festhaltende und durch Veränderungsappell verunsicherte „nostalgisch-bürgerlichen Mitte“ sowie einer veränderungsbereite und eher jüngere „adaptiv-pragmatische Mitte“.
Beide Milieus verlieren demnach derzeit die Zuversicht, dass die Parteien der demokratischen bürgerlichen Mitte die für sie relevanten Probleme lösen, und blicken pessimistischer in die Zukunft. Dies wiederum gehe in beiden Milieus „mit einer wachsenden Offenheit für rechtspopulistisches Agendasetting einher“, wie der Autor und die Autorin weiter berichteten.
Laut ihrer Analyse fielen die Zustimmungswerte der Ampelparteien SPD, Grüne und FDP im adaptiv-pragmatischen Milieu seit der Bundestagswahl 2021 bereits um insgesamt 22 Prozentpunkte, allerdings ohne dass die Union bisher nennenswert profitierte. Sie legte nur um drei Prozentpunkte zu, während die AfD ihren Stimmenanteil um 14 Prozentpunkte steigerte und das relativ neu gegründete Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) bei neun Prozent lag.
In der nostalgisch-bürgerlichen Mitte summierten sich die Gesamtverluste von SPD, Grünen und FDP demnach auf 29 Prozentpunkte, während CDU und CSU nur um sieben Prozentpunkte zulegten. Die AfD gewann 15 Prozentpunkte, während das BSW dort wiederum bei neun Prozent lag.
Vehrkamp und Borgstedt kritisierten die demokratischen Parteien der Mitte scharf. Diese setzten als Reaktion auf sinkende Zustimmungswerte in der Mitte offenbar auf mehr Konkurrenz untereinander. Dies sei aber nicht hilfreich. Es gelinge ihnen „derzeit nicht, in der Mitte den Eindruck von Empathie, Problemlösungsfähigkeit und Zugewandtheit zu hinterlassen“.
Der zentrale Wunsch der gesellschaftlichen Mitte sei eine Konzentration der Politik auf „Programme für einen gelingenden Alltag“ in Bereichen wie Bildung, Infrastruktur, Digitalisierung und Bürokratieabbau. Die Milieus eine der Wunsch „nach Harmonie, Planbarkeit und Wohlstandssicherheit“, hieß es in dem Positionspapier der Expertin und des Experten mit dem Titel „Die Mitte stärken“ weiter. Die Parteien der demokratischen Mitte sollten dabei kooperieren, statt „große polarisierende Debatten“ zu führen.
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