Rhein-Kreis Neuss – George Minne (1866–1941) und Léon Spilliaert (1881–1946) stehen im Fokus der Ausstellung. Im Gegensatz zu dem durch seine Knabenskulpturen auch in Deutschland bekannten Bildhauer George Minne ist der zuletzt in großen Einzelausstellungen in London, Paris, Antwerpen und Lausanne gewürdigte Léon Spilliaert hierzulande noch weitgehend unbekannt.
Die exklusiv in Neuss gezeigte Ausstellung vereint rund 70 Werke. Die zum Teil selten oder noch nie gezeigten Bilder, Arbeiten auf Papier und Skulpturen stammen aus öffentlichen und privaten Sammlungen aus dem In- und Ausland. „Ich freue mich sehr über das in den zahlreichen Leihgaben zum Ausdruck gebrachte Vertrauen gegenüber unserem Haus“, betont Dr. Uta Husmeier-Schirlitz, Direktorin des Clemens Sels Museums Neuss. „Angesichts unserer eigenen international renommierten Symbolismus-Sammlung, zu dessen Bestand auch Werke von George Minne zählen, und dank eines überzeugenden Ausstellungskonzepts fanden wir bei allen angefragten Leihgebern große Zustimmung. Unsere Präsentation wird dem Publikum zwei in Deutschland leider noch immer zu wenig bekannte Künstler vorstellen und“, so Dr. Husmeier-Schirlitz weiter, „sicherlich für viele Besucherinnen und Besucher Neuentdeckungen bieten.“
„Die Ausstellung ist Ausdruck der stets hervorragenden Arbeit unseres Museums“, erklärt Reiner Breuer, Bürgermeister der Stadt Neuss. „Sie wird dem guten Renommee unseres Museums gerecht und hoffentlich zahlreiche Besucherinnen und Besucher begeistern.“
Die Zusammenschau von Minne und Spilliaert ermöglicht einen neuen Blick auf die wegweisenden Impulse, die vom belgischen Symbolismus und insbesondere von den beiden Protagonisten Minne und Spilliaert ausgingen. „Fokussiert auf Werke der 1880er- bis 1910er-Jahre spiegelt das Schaffen von George Minne und Léon Spilliaert den Zeitgeist eines von Weltschmerz und Aufbruchsstimmung geprägten Fin de Siècle wider“, hebt Dr. Bettina Zeman, Kuratorin der Ausstellung und Kustodin für die Kunst des 19. bis 21. Jahrhunderts am Clemens Sels Museum Neuss, hervor. „Sowohl die Skulpturen Minnes als auch die Bilder Spilliaerts stehen beispielhaft für die äußerst subjektive und gefühlsbetonte Kunst dieser Epoche, aber auch für eine neuartige Stilisierung und Typisierung von Bildmotiven und Figurendarstellungen, wie wir sie erst im Expressionismus wiederfinden.“
George Minne, der bereits zu Lebzeiten große Wertschätzung und Bekanntheit genoss, zählt zu den Wegbereitern und wichtigen Schlüsselfiguren für die Entwicklung der symbolistischen Bildhauerei in Belgien. Seine in Gips, Marmor oder Bronze ausgeführten Jünglingsfiguren zeichnen sich durch eine teils fließende, teils kantige Körperkontur aus. Im spannungsvollen Gegensatz zur Zartheit der schlanken Knabenfiguren steht die expressive Gestik der Arme, die den Körper meist eng umklammern. Mit dieser in sich gekehrten Haltung wirken die Figuren wie eine Metapher von Schmerz, Einsamkeit oder Trauer. So wurde zum Beispiel der ursprünglich für einen mehrfigurigen Brunnen geschaffene „Kniende Jüngling“ von Minne auch als Grabmal und dekorative Einzelplastik ausgeführt. Mit seinen Werken ist er in Deutschland in vielen öffentlichen Sammlungen vertreten.
Léon Spilliaert, 15 Jahre jünger als sein Landsmann Minne, schuf neben einer Reihe enigmatischer Selbstporträts zahlreiche mit Bleistift, Aquarell oder Tusche ausgeführte Kompositionen auf Papier. Er malte Einzelfiguren zeigende oder menschenleere Szenerien von Dünen, Stränden, Uferpromenaden oder verlassenen Innenräumen. Angesichts der angegriffenen Gesundheit des Künstlers, der zeitlebens an Schlaflosigkeit litt, können seine Darstellungen als Spiegel emotionaler Zustände wie Einsamkeit oder sehnsuchtsvolle Wehmut gelesen werden. In ihrer formalen und farblichen Reduktion wirken Spilliaerts Bilder häufig rätselhaft und unwirklich. Die bislang einzige Einzelausstellung zum Werk von Spilliaert in Deutschland fand erst 20 Jahre nach seinem Tod statt. In deutschen Museumssammlungen ist er bis heute mit keinem Werk vertreten.
„Der Landschaftsverband Rheinland unterstützt dieses Projekt durch Mittel aus der Museumsförderung sehr gerne. Erschließt es doch mit der Ausstellung ‚Gewagte Visionen – George Minne und Léon Spilliaert‘ nicht nur einen herausragenden Sammlungsbestand, was NRW zugutekommt. Zudem wird dieser auch über die Region hinaus sichtbar, was zu einer Schärfung des einzigartigen Profils des Clemens Sels Museums innerhalb der dichten Museumslandschaft des Rheinlandes beitragen wird“, betont Dr. Corinna Franz, LVR-Dezernentin Kultur und Landschaftliche Kulturpflege.
Sowohl Minnes als auch Spilliaerts Arbeiten zeugen mit ihrer melancholischen Stille und geradezu puristischen Ästhetik von einer beeindruckenden künstlerischen Eigenständigkeit. Ihrer beider Kunst ist nicht nur Ausdruck und Verkörperung der eigenen Gefühlswelten und Visionen, sondern sie markiert in ihrer reduzierten eindringlichen Formensprache den Übergang vom Symbolismus zum Expressionismus und verweist bereits auf die kommende Abstraktion in der Kunst des 20. Jahrhunderts.
„Die Möglichkeit, die fesselnden Bilduniversen von George Minne und Léon Spilliaert miteinander in Kontrast zu setzen, eröffnet nicht nur visuell reizvolle Perspektiven, sondern birgt auch tiefgreifende inhaltliche Spannung. Dass die Ausstellung so Gelegenheit bietet, das Schaffen von gleich zwei bedeutenden Künstlern zu erkunden, erfüllt uns mit großer Freude“, äußerte Dr. Martin Hoernes, Generalsekretär der Ernst von Siemens Kunststiftung.