Die 2020 noch unter der großen Koalition beschlossene Wahlrechtsreform ist verfassungsgemäß. Eine Normenkontrollklage der damaligen Oppositionsfraktionen von FDP, Grünen und Linkspartei scheiterte am Mittwoch vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Nach einer neuen Reform der „Ampel“ aus diesem Jahr ist das Wahlrecht von 2020 zwar weitgehend überholt, der aktuelle Bundestag wurde aber 2021 noch auf seiner Grundlage gewählt. (Az. 2 BvF 1/21)
Die damals vorgenommenen Änderungen im Wahlgesetz seien deutlich genug, erläuterte Gerichtsvizepräsidentin Doris König in ihren einführenden Worten. Das Gericht sah auch keine Verletzung der Chancengleichheit der Parteien oder der Grundsätze von Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl.
Sollte die Bundestagswahl von 2021 in Berlin teilweise wiederholt werden, würde dies somit ebenfalls auf Grundlage dieses Wahlrechts geschehen. Über diese Teilwiederholung entscheidet das Gericht am 19. Dezember. Es geht vor allem um die Frage, in wie vielen der Berliner Wahlbezirken die Wahl wiederholt werden soll.
Die nun für verfassungsgemäß erklärte Wahlrechtsreform war im Oktober 2020 im Bundestag mit den Stimmen der großen Koalition aus Union und SPD beschlossen worden und trat im November 2020 in Kraft. Sie galt als Minimalkompromiss und sollte den Streit darüber befrieden, wie das stetige Anwachsen des Parlaments zurückgedreht werden könnte. Dazu sah die Regelung unter anderem vor, dass bis zu drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden.
Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktkandidaten in den Bundestag bringt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen würden. Die anderen Parteien bekommen dafür Ausgleichsmandate – nach der Reform von 2020 aber erst ab vier Überhangmandaten. ,Das Gericht erklärte nun, dass damit zwar in die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien eingegriffen würde. Das sei aber gerechtfertigt; die Regelung bewege sich noch innerhalb des gesetzgeberischen Spielraums.
Außerdem sah die Reform vor, dass weitere Überhangmandate in begrenztem Umfang mit Listenmandaten derselben Partei in anderen Bundesländern verrechnet werden. Auch das hielt das Gericht für gerechtfertigt mit Blick auf das „verfassungslegitime Anliegen einer Stärkung der Personenwahl“, wie König sagte.
Die Richterinnen und Richter des Zweiten Senats waren sich bei ihrer Entscheidung aber nicht einig: Diese erging mit fünf zu drei Stimmen. Vizepräsidentin König und die Verfassungsrichter Ulrich Maidowski und Peter Müller sahen die Sache anders als die Mehrheit des Senats und gaben ein sogenanntes Sondervotum ab.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Ansgar Heveling sagte in Karlsruhe, das Urteil sei ein „Appell an die ‚Ampel‘, das neue Wahlrecht zu überdenken“. Dieses stütze das personale Element nicht, sondern schwäche es.,FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle teilte dagegen mit, es sei „gut, dass der Bundestag sich schon am Anfang der laufenden Legislaturperiode ein neues Wahlrecht gegeben hat“.
Grünen-Bundestagsabgeordneter Till Steffen erklärte, die „knappe Entscheidung und die abweichenden Meinungen von drei Richtern sind für uns ein klares Signal, dass wir es mit dem neuen Wahlrecht, das wir als Ampelkoalition verabschiedet haben, richtig gemacht haben“.
Die Geschichte des Urteils ist ungewöhnlich. Die Bundestagsfraktionen selbst, die sich an das Verfassungsgericht gewandt hatten, hielten das Verfahren zwischendurch für überflüssig – als nämlich in diesem Frühling die neue Wahlrechtsreform durch den Bundestag gebracht wurde. Sie beantragten, das Verfahren ruhen zu lassen. Das lehnte das Gericht jedoch ab.
Auch mit der neuen Wahlrechtsreform der Ampelkoalition wird Karlsruhe sich noch befassen. Unter anderem die CSU, die Linkspartei und die bayerische Landesregierung haben die Verfassungsrichterinnen und -richter deswegen angerufen.
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